Die politische Lage in Ägypten im Sommer 1882

„Man muss davon ausgehen, dass die Krise an ihrem kritischsten Punkt angelangt ist.“

(The London Illustrated News, Ende Mai 1882)

 

Die Geschichte des „modernen“ Ägypten beginnt mit Mohammed Ali (1769–1849). Er reformiert die Verwaltung, organisiert Land- und Seestreitkräfte und dehnt die ägyptische Einflusssphäre aus. Zwar steht das Land nach wie vor unter osmanischer Oberhoheit und ist Sultan Abdülhamid II. tributpflichtig, gilt aber praktisch als eigenständige Macht, an deren Spitze ein Khedive (Vizekönig) steht. Die Wichtigkeit Ägyptens für die europäischen Großmächte steigt, als unter der Ägide des profranzösisch eingestellten Khediven Said Pascha auf Initiative des Franzosen Ferdinand de Lesseps im Jahr 1856 mit dem Bau des Sueskanals begonnen wird, der durch die direkte Verbindung zwischen Mittelmeer und Rotem Meer (und damit zum Indischen Ozean) den Seeweg nach Indien dramatisch verkürzen soll.

Im Jahr 1863 besteigt der Khedive Ismail den Thron von Ägypten. Unter seiner Führung werden Infrastruktur und Wirtschaft des Landes verbessert, und aus Alexandria und Kairo werden große, moderne Städte. In Ismails Regierungszeit entstehen 1000 Meilen Schienenstrecken, 8000 Meilen Kanäle und 5000 Meilen Telegraphenlinien. Zudem wird im August 1869 der Sueskanal vollendet und am 17. November in Anwesenheit fast des gesamten europäischen Hochadels feierlich eingeweiht. Ismails breit angelegte Programme treiben Ägypten indes in den Bankrott und zwingen den Khediven letztlich, sein eigenes Land gleichsam zu „verpfänden“, um seine europäischen Gläubiger auszahlen zu können. Effektiv muss er Teile des Einkommens seines Landes direkt an die europäischen Großmächte abführen, die dadurch immer mehr Einfluss auf die innere Politik des Landes nehmen können.

Die wichtigsten europäischen Gläubiger Ägyptens sind Großbritannien und Frankreich. Insbesondere ersteres hat aufgrund der strategischen Lage des Sueskanals großes Interesse an Ägypten, was Premierminister Disraeli 1875 durch den Aufkauf von 9/20 der Sueskanalaktien (176.200 Aktien für vier Millionen Pfund) deutlich macht. Ab diesem Zeitpunkt ist der finanzielle Niedergang Ägyptens, das sich letztlich durch den Sueskanal völlig übernommen hat, nicht mehr aufzuhalten. Als der Khedive aufgrund der finanziellen Notlage drei Jahre später weitere Zugeständnisse machen muss, regt sich Widerstand im Land. Am 8. April 1876 meldet der ägyptische Staat Bankrott an, der Khedive stellt die Zahlung der Schatzwechsel ein. Im November richten die Gläubigermächte Ägyptens eine internationale Finanzkontrolle ein: die „Ciasse de la Dette Publique“ („Kasse der öffentlichen Schulden“). Dieser Beschluss markiert den Anfang der direkten finanziellen Vorherrschaft der Europäer über Ägypten und des französisch-englischen Kondominiums.

Das ägyptische Finanzproblem

Ismail ist oft in finanziellen Schwierigkeiten und kennt nur zwei Lösungen: die Steuern erhöhen und, wenn sich damit die Haushaltslöcher nicht stopfen lassen, Anleihen machen. Damit fängt er gleich zu Beginn seiner Regierungszeit an. Die Anleihekonditionen sind von Anfang an skandalös. Sie werden im Laufe der Jahre dennoch bis zur Unerfüllbarkeit verschärft. In einer Zeit, da Anleihen sich mit durchschnittlich 6 bis 7 Prozent verzinsen, beträgt der Satz für Ägypten mindestens 12 oder 13, manchmal 25 bis 27 Prozent. Daneben sind Kommissionsgebühren zu entrichten. Im Jahre 1873 erhält Ismail eine Anleihe von nominell 32 Millionen Pfund. Tatsächlich empfängt er nach Bezahlung sämtlicher anfallenden Kosten nur 19 Millionen. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 hat an den Geldmärkten Turbulenzen ausgelöst und dem Misstrauen gegenüber den „Turbananleihen“ neue Nahrung gegeben. Geld kommt Ismail teuer zu stehen.

(nach Teile und herrsche. Die Aufteilung Afrikas 1880–1914 von Hendrik L. Wesseling)

Aufgrund der (zu) hohen Staatsschulden erzielt die Einführung der Kasse der öffentlichen Schulden nicht die gewünschte Wirkung. Im August 1878 muss der Khedive gestatten, dass die Minister seiner Regierung von den Gläubigernationen bestellt und einzig diesen verantwortlich sind. Ende der siebziger Jahre kommt es deshalb zu Unruhen und Demonstrationen, und der Khedive stellt sich gegen seine eigene Regierung, deren Premierminister sowie der (von den Briten bestellte) Finanzminister den englischen Kurs gutheißen. Im Juni 1879 legen die Botschafter Großbritanniens und Frankreichs dem Khediven nahe, zu Gunsten seines Sohnes Tawfiq abzutreten. Dies nimmt der an guten Beziehungen mit den Großmächten interessierte Sultan des Osmanischen Reichs zum Anlass, Ismail direkt abzusetzen.

Tawfiq bemüht sich, im Sinne der europäischen Großmächte zu arbeiten, doch fehlt ihm letztlich das Durchsetzungsvermögen im Umgang mit seinen Generälen, deren Unmut durch die Entlassung zahlreicher Offiziere sowie schwelende Konflikte zwischen arabischen und tscherkassischen Offizieren weiter geschürt wird. Hinzu kommt die instabile politische Lage in anderen Teilen Nordafrikas; als die Franzosen im Mai 1881 Tunesien gleichsam kampflos einnehmen, kommt den Ägyptern  die Unsicherheit der eigenen Position gegenüber den europäischen Großmächten schmerzhaft zu Bewusstsein.

Mitte 1881 meutert das Heer unter Führung von Said Ahmed Arabi (der sich Arabi Bey nennt und bei vielen Ägyptern schon bald „Al Wahid“ heißt – „der Eine“). Im September kommt es vor dem Königlichen Palast in Kairo zur Konfrontation zwischen dem Khediven und einer Gruppe von Arabi angeführter Offiziere, die letztlich dazu führt, dass der Khedive dem Militär nachgibt und Arabi zu Beginn des Jahres 1882 zum Kriegsminister macht Dies wiederum beunruhigt die französische und die britische Regierung, die in Arabi eine Gefahr für ihre Pfründe in Ägypten sehen und nicht daran denken, die Kontrolle, die sie de facto über Ägypten inne haben, zu Gunsten nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen abzugeben. Dies teilen sie den Ägyptern am 26. Januar 1882 in einer vom französischen Premierminister Leon Gambetta, einem „Scharfmacher“ in Sachen Ägypten, verfassten Gemeinsamen Note unmissverständlich mit.

In der Zwischenzeit kann Arabi seine Position dennoch immer mehr verbessern, zumal ihm der Sultan des Osmanischen Reichs mittlerweile den Rücken stärkt. Im März 1882 scheint sich die Lage zu beruhigen, als sich die Positionen des Khediven und seines Kriegsministers einander annähern; in dieser Zeit wird Arabi in den Rang eines Paschas erhoben. Direkt danach schwingt sich Arabi, der Unterstützung des Volkes gewiss, indes zum Diktator auf und zwingt den Khediven in eine Statistenrolle. Arabi lässt Alexandra und Damietta in Erwartung eines britisch-französischen Angriffs befestigen. Im Gegenzug beziehen britische und französische Kriegsschiffe am 26. Mai Beobachterpositionen vor Alexandria, bleiben aber außerhalb der ägyptischen Gewässer. Die Situation wird zusehend schlechter. Am 11. Juni 1882 kommt es zu anti-europäischen Ausschreitungen in Alexandria, die etwa 50 Europäern das Leben kosten. Als ägyptische Truppen die Ordnung wieder hergestellt haben, ergeht eine Empfehlung an alle Ausländer, die Stadt zu verlassen. Dabei kommt von britischer Seite eine neue technische Errungenschaft zum Einsatz: Das britische Konsulat und das Flaggschiff der Briten, die Invincible unter Sir Beauchamp Paget Seymour sind durch eine Telefonleitung miteinander verbunden – ein Novum in der Militärgeschichte. Der Kommandant der Invincible, Richard Molyneux, erlebt die Unruhen auf Landgang in Alexandria mit und überlebt nur knapp.

Arabi im Spiegel der englischen Presse

„Plötzlich taucht da ein Hasardeur von besonderer Kühnheit und Gerissenheit auf, wie es sie nur bei den orientalischen Rassen gibt, dem es Schritt für Schritt und vor den Augen der erstaunten Weltöffentlichkeit gelingt, ohne Behinderung mit dem Abschaum seines Volkes eine Militärtyrannei zu errichten, die nun droht, den Khediven abzusetzen, und die ohne Angst vor Bestrafung den Regierungen des Westens und ihren gepanzerten Flotten ins Gesicht lacht.“

(The Illustrated London News, Juni 1882)

Das „Alexandria-Massaker“ wird von der britischen Presse stark aufgebauscht und dient der Regierung zudem als willkommene Ablenkung von innenpoltischen Problemen, die sich in der Irland-Frage auftun. Während sich die Engländer also auf eine militärische Intervention vorbereiten, ziehen sich die Franzosen nach dem Rücktritt des „Falken“ Gambetta (er stürzt über eine fehlgeschlagene Wahlreform) unter ihrem deutlich zurückhaltenderen neuen Regierungschef Freycinet am 5. Juli aus der Ägypten-Mission zurück (was Admiral Conrad, der französische Kommandeur vor Ort, als sehr unschön empfindet) und bringen damit den seit 1880 amtierenden britischen Premierminister William Ewart Gladstone (s. Compendium, S. 46) in eine Position, in der er nie sein wollte: die des Hauptverantwortlichen für den Angriff auf Ägypten. Dadurch würde sich England nicht nur die Feindschaft Frankreichs zuziehen, sondern auch in eine Abhängigkeit zu den übrigen europäischen Großmächten gelangen, da eine Besetzung Ägyptens effektiv auch die volle Verantwortung für die Liquidierung der Schulden des Landes bedeuten würde. Ganz ungefährlich ist eine solche Aktion zudem nicht: Die ägyptische Armee ist durchaus gut ausgerüstet und wird seit den frühen siebziger Jahren von amerikanischen Bürgerkriegsveteranen ausgebildet, deren wichtigster der frühere Nordstaaten-General Charles Pomeroy Stone ist, ein Absolvent der angesehenen Militärschule West Point.

Gladstone erkennt aber auch, dass sich in Ägypten ein Machtvakuum aufgetan hat, das außer Kontrolle zu geraten droht, und sieht keinen anderen Weg mehr zum Schutz der britischen Interessen als die direkte Intervention. Und so wird die britische Flottenpräsenz vor Alexandria verstärkt, doch trotz der Anwesenheit dieser Schiffe vor dem Hafen von Alexandria halten die Unruhen innerhalb der Stadt an, bis sich Admiral Seymour am späten Nachmittag des 9. Juli zu einem Ultimatum veranlasst sieht. Daraufhin verlassen die letzten Schiffe anderer europäischer Nationen den Hafen; ein Teil der Flüchtenden findet auf den britischen Kriegsschiffen Zuflucht. Der Ablauf des Ultimatums ist für 6.30 Uhr am 11. Juli 1882 angekündigt.

Spielerfiguren, die das Solo-Abenteuer Vor dem Donner der Kanonen gespielt haben, könnten bereits Kenntnis dieses Zeitplans haben (sofern sie mit den Offizieren der HMS Temeraire Whist gespielt haben).

Die Handlung der Kampagne setzt am Vormittag des 10. Juli 1882 ein. Im weiteren Verlauf der einzelnen Abenteuer findet die Spielleiterin Informationen bezüglich der weiteren Ereignisse in Ägypten, die hier noch zu viel verraten könnten.

 

Spielleiterinnen, die sich noch ausführlicher vorbereiten möchten, erhalten nachstehend eine kurze Literaturliste.

Für die militärischen Aspekte der Belagerung von Alexandria haben wir uns an den beiden Osprey-Bänden Tel el-Kebir 1882: Wolsely’s Conquest of Egypt von Donald Featherstone (Osprey Campaign Series 27) sowie The Sudan Campaigns 1881-1898 von Robert Wilkinson-Latham (Osprey Men-at-Arms 59) orientiert. Die modernste und zugleiche umfassendste Darstellung des britischen Ägypten-Feldzuges ist A Tidy Little War von William Wright (The History Press, 2009); gerade das Alexandria-Abenteuer verdankt diesem Buch viel. Allgemeinere wirtschaftliche und politische Informationen zur Situation in Afrika im Allgemeinen und Ägypten im Besonderen zur Handlungszeit der Kampagne finden sich in Teile und herrsche. Die Aufteilung Afrikas 1880-1914 von Hendrik L. Wesseling.

Unsere Informationen zu Alexandria entstammen neben eigener Erfahrung vor Ort hauptsächlich vier Quellen: dem Artikel „Alexandria: French Expedition to the Modern Age“ in Alexandria: the Site & the History, Hrsg. Gareth L. Stein (New York University Press); dem Buch Alexandria 1860-1960. The brief life of a cosmopolitan community, Hrsg. Robert Ilöbert & Ilios Yannakakis (Hippocrates Publishing); der Encyclopaedia Britannica (Ausgabe von 1911) und Meyer Konversationslexikon (1885 bis 1892) sowie dem Band Land der Könige aus der Ägypten-Box (Laurin-Verlag) für das deutsche Cthulhu-Rollenspiel.

Trotz all seiner (selbst für den Stand des späten neunzehnten Jahrhunderts) zahlreichen Fehler bietet sich zudem der Reiseführer von Wallis Budge (2001 von Dover Publications als Budge’s Egypt. A Classic 19th-Century Travel Guide nachgedruckt) zur Vermittlung der Reiseatmosphäre der Zeit an. Dieses Buch war ab etwa 1890 die Standardbeigabe einer jeden über Thomas Cook gebuchten Ägyptentour.

Der kleine Band Reiseerinnerungen von damals. Bilder von der Grand Tour des 19. Jahrhunderts von Hans Christian Adams (Harenbergs Bibliophile Taschenbücher Nummer 474, 1985) bietet viele hübsche zeitgenössische Bilder und Reiseberichte. Ähnlich nützlich ist ein Sammelband mit zeitgenössischen Berichterstattungen aus den Zeitschriften Graphicund  London Illustrated News, der zudem reichhaltig bebildert ist: An Egyptian Panorama. Reports from the 19th Century British Press, Hrsg. Nicholas Warner (Kairo: Zeituona, 1994).