“Den Anfang macht Rainer Nagel mit seinen ‘Ängsten und Schwächen’, die unsrer Rollenspielfigur zu mehr Realitätsnähe verhelfen wird.”
(Karl-Georg Müller in seinem Vorwort zum Gildenbrief 6)
Nachstehend folgt eine möglichst originalgetreue Reproduktion des Artikels (auf Seite 2 und 3 des Originals vom Mai 1986), entsprechend in alter Rechtschreibung; der Gildenbrief wurde damals auf einer höchst modernen Schreibmaschine erstellt, mit der zwar Fettdruck möglich war, aber kein Kursivdruck.
Spielfiguren haben die Angewohnheit, zumeist, ungeachtet des Abenteurertyps, als Quasi-Heilige durch die Spielwelt zu laufen; sie scheinen bar jeder Schwächen zu sein und sich vor nichts zu fürchten (es sei denn, der Spieler weiß genau, dass ein Monster für seine Figur zu stark ist …). Mit Hilfe der Zusatzregel “Ängste und Schwächen” läßt sich – allerdings auf Kosten erhöhter Arbeit des Spielleiters – eine lebendigere Figur erstellen, die in einigen Bereichen besser ist als eine vergleichbare Spielfigur, dafür aber auch ganz spezielle Schwächen und/oder Ängste hat.
Die Zusatzregel ist nur bei der Erschaffung eines Abenteurers anwendbar. Jeder Spieler kann sich nach Belieben Ängste und Schwächen seiner Spielfigur auswählen. Je nach Art von Schwäche/Angst erhält er einen Zuwachs an Lernpunkten, die er bei der Erschaffung einsetzen kann. Die auf diese Art und Weise gewonnenen Punkte können beliebig auf Waffenfertigkeiten, generelle Fertigkeiten und Zaubersprüche aufgeteilt werden, nicht aber auf Berufsfertigkeiten.
Ängste erfordern von der Spielfigur einen PW: Intelligenz, wenn die Situation eintritt, vor der die Spielfigur sich fürchtet. In einer besonders schwierigen Situation kann der PW durch negative WM modifiziert werden. Gelingt der PW, so kann die Spielfigur ihre Angst überwinden und die geplante Handlung durchführen. Mißlingt der PW, so kann die Spielfigur die betreffende Handlung nicht ausführen.
Beispiel: Eine unter Klaustropobie leidende Spielfigur möchte durch einen halbmeterhohen Gang robben. Dies ist ihr nur bei einem gelungenen PW: Intelligenz möglich.
Schwächen lenken eine Spielfigur vom Geschehen ab und können sie zu Handlungen zwingen, die in Anbetracht der Situation wenig sinnvoll wirken, aber aufgrund der besonderen Schwäche der Spielfigur erklärbar sind. Ob eine Spielfigur einer Schwäche unterliegt, wird wie die Widerstehung von Versuchungen gehandthabt, wobei allerdings aufgrund der beinahe krankhaften Schwäche der Warnfaktor = 0 ist, also der erste Prüfwurf entfällt. Der Versuchungsgrad liegt in einem solchen Falle grundsätzlich bei 30. Mißlingt also der PW: (Selbstbeherrschung – 30), so muß die Spielfigur ihrer Schwäche nachgeben.
Beispiel: Befindet sich eine drogenabhängige Spielfigur in einer Gruppe, die einen Angriff auf das Rauschmittellager einers Händlers unternimmt, so besteht die Gefahr, daß die Spielfigur sich der Drogen zu bemächtigen versucht, anstatt der Gruppe im sinnvollen Vorgehen zu helfen.
Im folgenden werden exemplarisch einige Schwächen und Ängste beschrieben; die Beschreibung endet mit der Angabe, wieviele Lernpunkte sich durch die Angst/Schwäche zusätzlich erwerben lassen. Natürlich steht es jedem SpL frei, diesen Katalog durch weitere Ängste und Schwächen zu ergänzen.
Ängste: | Angst vor offenen Gebieten – Der PW wird immer dann fällig, wenn die Spielfigur versucht, eine große offene Fläche (Platz, Ebene etc.) zu überqueren. Z w e i Lernpunkte. |
Angst vor engen Räumen – Klaustrophobie. Der PW wird fällig, wenn die Spielfigur einen engen, abgeschlossenen Raum betreten will. Z w e i Lernpunkte. | |
Angst vor Spinnen – Der PW wird fällig, wenn die Spielfigur in einen Kampf mit Spinnen (ungeachtet der Größe) verwickelt ist. Mißlingt der PW, flieht die Spielfigur, als unterläge sie der Wirkung des Zaubers “Namenloses Grauen”. Z w e i Lernpunkte. | |
Angst vor Schlangen – Siehe Angst vor Spinnen, mit Bezug auf Schlangen. Z w e i Lernpunkte. | |
Angst vor Dunkelheit – Der PW wird fällig, wenn die Spielfigur einen dunklen, unbeleuchteten Raum betreten oder in Dunkelheit agieren soll. Z w e i Lernpunkte. | |
Angst vor Geistern – Bei jeder Konfrontation mit einem Geisterwesen oder einem Untoten muß der PW erfolgen, bevor eventuelle PWs aufgrund der Natur des Geisterwesens bzw. des Untoten durchgeführt werden. Mißlingt der PW: Intelligenz, so wirkt dies wiederum wie der Zauber “Namenloses Grauen”; gelingt der PW, werden u.U. nötige weitere PW (abhängig von der Art des Wesens) durchgeführt. V i e r Lernpunkte. | |
Schwächen: | Vom anderen Geschlecht angezogen – Normalerweise nichts falsches, aber in Verbindung mit einer niedrigen Selbstbeherrschung in einer kritischen Situation fatal, vor allem, wenn ein Gegner entsprechende Lockmittel einsetzt. Diese Schwäche beinhaltet auch den Zwang, bedrohten oder bedroht erscheinenden Angehörigen des anderen Geschlechts unter allen Umständen zu Hilfe zu eilen. F ü n f Lernpunkte. |
Drogenabhängigkeit – Die Spielfigur ist von einer wie auch immer gearteten Droge abhängig, die in regelmäßigen Abständen eingenommen werden muß. Je nach Art der Droge kann längerer Entzug zum Verlust von AP, LP, zu negativen WM oder gar zu Krankheit und Tod führen. Die Droge wird somit wichtiger als alles andere im Leben der Spielfigur. S e c h s Lernpunkte. | |
Alkoholsucht – Ähnlich wie Drogenabhängigkeit, allerdings mit etwas weniger gravierenden Folgen im frühen Stadium der Sucht. Die Spielfigur muß jeden Tag ihr Quantum Alkohol trinken, um spürbre WM zu vermeiden. Mit fortschreitender Zeit ergibt sich eine Immunität gegen schwacheAlkoholsorten (kann nach dem System im “Gildenbrief 3” bestimmt werden); dementsprechend steigen auch die benötigten finanziellen Mittel. F ü n f Lernpunkte. | |
Spielsucht – Die Spielfigur kann nur schwer einem ihr angebotenen Spiel aus dem Weg gehen. Sie spielt um den Spielens Willen und scheut im Notfall nicht vor unlauteren Mitteln zurück, um zu gewinnen oder sich neues Geld zu beschaffen. Da Spiele meist so balanciert sind, daß die “Bank” gewinnt, ist diese Sucht sehr kostspielig. V i e r Lernpunkte. | |
Geldgier – Persönlicher Reichtum wird wichtiger als alles andere. Insbesondere hat die Spielfigur gravierende Probleme, gemeinsam errungene Beute auch mit dem Rest der Gruppe zu teilen. F ü n f Lernpunkte. |
Sowohl Ängste als auch Schwächenmüssen vom Spielleiter sorgfältig überwacht werden. Es ist unumgänglich, daß in der betreffenden SItuation die Auswirkungen auch voll zum Tragen kommen, da sonst der Vorteil, den die Spieler erhalten haben, nicht ausgeglichen werden kann. Weiterhin muß der SpL zu eifrige Spieler darauf aufmerksam machen, daß eine größere Ansammlung von insbesondere Schwächen verheerende Folgen haben kann (beispielsweise die Kombination “Geldgier” und “Spielsucht”), ungeachtet der dadurch gewonnenen neun Lernpunkte.
In Maßen eingesetzt, können aber Schwächen und Ängste zu einem weitaus rollengerechteren Verhalten der Spielfiguren beitragen und ihnen mehr Leben einhauchen.
(Im Fanzine Pläi Beck 16 aus dem gleichen Jahr schrieb Frank Omland, der Gildenbrief 6 sei für den Papierkorb. Da ein Viertel der Ausgabe von Rainer und dieser noch nicht ganz so abgeklärt war wie heute, war er durchaus verstimmt.)
(Rainer behauptet übrigens auch, dass die ersten Regeln für das Altern von MIDGARD-Spieleriguren von ihm sind, veröffentlicht im gleichen Gildenbrief auf Seite 11. Vermutlich stimmt das auch.)