Hausierer

Hausierer

“So romantisches Zeugs, so Kolportageromane, das mag sie.”

(Clara Hochbruck, London, April 1883)

 

Hausierer sind von Haus zu Haus gehende Händler, die in eigener Verantwortung und Rechnung ein Warensortiment anbieten. Die Bezeichnung gilt nicht nur für Zusteller von Druckwerken oder Kurzwaren, sondern auch für Anbieter von Dienstleistungen, z. B. Kesselflicker und Scherenschleifer. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich mit dem Kolporteur ein spezialisierter Hausierer, der Schriften unterhaltsamen oder sensationellen Inhalts anbietet. Insbesondere in Nordwestdeutschland kennt man den Hausierer wegen seines Karrens als “Kiepenkerl”.

Der Hausierer transportiert seine Ware aus eigener Kraft mit dem Schubkarren oder Handwagen, in einem Rückentragekorb oder einem übergeworfenen Quersack, oder er bietet sie in einem Bauchladen an. Als sozialer Aufstieg gelten ein Hundegespann, Fahrrad oder Pferdefuhrwerk.

Hausierer sind ein fester Bestandteil insbesondere der ländlichen Sozialstruktur. Ihr – durchaus erwünschter, oft herbeigesehnter – Besuch wird oft erwartet, denn ihr Warenangebot umfasst meist Artikel, die in ländlichen Gegenden nicht erhältlich sind und auch nicht selbst hergestellt werden können. Zudem überbringen sie Nachrichten und Informationen aus der weiter entfernten Umgebung.

Im frühen 19. Jahrhundert minimieren die Verleger von besonders umfangreichen Werken wie Lexika ihr Risiko, indem sie diese in Lieferungen von zwei Bogen – also 32 Seiten – teilen und auf diese Weise von Hausierern vertreiben lassen. So müssen sie immer nur kleine Mengen produzieren, und auch nicht wohlhabende Kunden können die Lieferungen bezahlen. Hat der Kunde auf diese Weise alle Lieferungen eines Bandes erhalten, kann er sie beim Buchbinder binden lassen.

Die Kolportage ist im 19. Jahrhundert auch ein Instrument der christlichen Mission: Bibeln, religiöse Traktate, gedruckte Predigtsammlungen und andere christliche Literatur werden von Kolporteuren bis in die entlegensten Gegenden gebracht. Bei solchen Reisen halten die Händler oft auch Hausgottesdienste und Bibelstunden ab.

Der Kolporteuer gegen Ende des Jahrhunderts vertreibt in erster Linie im Abonnement billige Trivialromane, die aufgrund ihres Preises in Deutschland als „Groschenhefte”, in den USA als „dime novels“ und in Großbritannien als „penny dreadfuls“ bekannt sind. Die verbesserten Druck- und Versandmöglichkeiten sowie die stark angestiegene Zahl der des Lesens Mächtigen führt zu einem raschen Aufstieg dieser Literaturgattung, die sich in erster Linie an junge Leserinnen und Leser aus dem Arbeitermilieu wendet und versucht, diese mit schreiend bunt aufgemachten Titelbildern anzuziehen. Insbesondere Menschen auf dem Land oder aus ärmlichen Verhältnissen, die keinen Zugang zu Leihbibliotheken haben, werden von Kolporteuren versorgt. Dabei decken die Themen eine erstaunliche Bandbreite ab: Detektive, maskierte Helden, tapfere Arbeiterinnen, die ihre Ehre verteidigen, einsame Rächer, Cowboys, gar Luftpiraten, Vampire und Geister tummeln sich in oft als Fortsetzungen (in England gemeinhin acht Folgen) ausgelegten Heften. Die Handlung ist oft gewalttätig und actionlastig und in der Regel hastig heruntergeschrieben.

Als erster amerikanischer Groschenroman gilt Ann S. Stephens Malaeska; the Indian Wife of the White Hunter (1860); der Roman wird innerhalb weniger Monate nach seinem Erscheinen über 65.000 Mal verkauft. Sehr beliebt in den USA sind ab 1872 der Detektiv „Old Sleuth“ von Harlan Halsey sowie die Romane um Buffalo Bill (die es ab 1905 auch in deutschen Übersetzungen gibt). Das Jahr 1885 sieht die erste Geschichte mit Nick Carter, und etwa zur gleichen Zeit erscheint mit Super Inventor Frank Reade, Jr. einer der wichtigsten Vertreter der ebenfalls zu den dime novels gehörenden Edisonaden. Legendäre Beispiele aus der englischen Literaturgeschichte sind die Romane um Varney the Vampire sowie die Geschichte um Sweeney Todd, den mörderischen Barbier der Fleet Street, der seine Kunden umbringt, damit sie zu Fleischpasteten verarbeitet werden können. In Deutschland erfreut man sich an spannenden Titeln wie Das rote Sefchen, die Tochter des Henkers oder das Geheimnis einer Mädchenseele, der berühmte Scharfrichter von Berlin – Sensations-Roman nach Acten, Aufzeichnungen und Mittheilungen des Scharfrichters soll einen Umsatz von insgesamt drei Millionen Mark haben. Und natürlich zählt auch Karl May (zumindest in seiner Phase zwischen 1882 und 1887) zu den Verfassern von Kolportageromanen – sein Roman Das Waldröschen gilt als der erfolgreichste Kolportageroman des 19. Jahrhunderts.

Die Gesamtzahl der in Deutschland vertriebenen Kolportageromane wird auf über 2.000 geschätzt; in der Hochzeit in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts gibt es rund 200 Verleger speziell in diesem Gewerbe. Um 1900 sind rund 26.000 Personen in der Kolportage beschäftigt (gegenüber 22.000 im gesamten restlichen Buchhandel); der Gesamtumsatz der Branche wird auf jährlich 50 Millionen Mark geschätzt.

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