„Die Landschaft fliegt gleichsam vorbei, die Flüsse scheinen unter den Rädern dahinzuströmen, die Häuser strahlen wie Morgensterne, und von Ihrer Rue de la Paix können Sie die winzige Bevölkerung einer kleinen Welt sehen …“
(Henri Stefan de Blowitz, Korrespondent der London Times, im Orient-Express, 1883)
Die Geschichte des ersten Luxuszuges der Welt hat eine ganz prosaische politische Wurzel: Für das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch stark ausgedehnte Osmanische Reich erweist sich eine Eisenbahnstrecke als beste Möglichkeit, das Reichsgebiet zu kontrollieren. Im Jahr 1869 erwirbt Sultan Abdul Asis die Genehmigung, zum Anschluss an das europäische Streckennetz eine Zuglinie von Konstantinopel nach Bosnien zu errichten. Dieses Bestreben bleibt auch erhalten, als nach dem für das Osmanische Reich ungünstigen Ausgangs des Krieges gegen Russland die Strecke durch die nun selbstständigen Staaten Serbien und Bulgarien führt, die aufgrund der Verträge von Berlin verpflichtet sind, die Strecke zu bauen.
Die Idee, auf der Strecke von Paris nach Konstantinopel einen Hotelzug verkehren zu lassen, stammt von dem belgischen Ingenieur Georges Nagelmackers (1845–1905), den eine USA-Reise von den Vorzügen langer Zugreisen mit luxuriösen Schlafwagen überzeugt hat. Er erwirbt zuerst die Lizenz für eine Schlafwagenverbindung Ostende – Brenner – Brindisi mit Anschluss an den Schiffsverkehr nach Indien, die aber Anfang der Siebzigerjahre durch die Verlegung der Postroute über den Mont Cenis wertlos wird. Im Jahre 1872 gründet Nagelmackers die Compagnie Internationale des Wagon-Lits (CIWL), die mit einer Zuglinie von Paris nach Wien anfängt.
Danach werden Nagelmackers’ Ambitionen größer – er greift nach dem Orient. Zwischen dem 10. und 14. Oktober 1882 verkehrt ein „Train Ecclair“ (französisch für „Blitzzug“) zwischen Paris und Wien, der nur aus Schlafwagen, Gepäckwagen und Speisewagen besteht, also auf übliche Zusätze wie Posttransport vollkommen verzichtet. Seine Pläne fasst Nagelmackers zu diesem Zeitpunkt so zusammen: „Ich glaube, dass es für Sie, die Sie viel reisen, interessant wäre, die Art, wie wir die Reisenden auf den großen Linien des Kontinents schneller und komfortabler befördern wollen, selbst zu beurteilen.“
Der legendäre Orient-Express nimmt am 5. Juni 1883 ab Paris seinen Dienst auf; ab dem 9. Juni wird die Strecke auch in der Gegenrichtung befahren. Allerdings sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle bestellten Materialien und Wagen eingetroffen, die den Zug zu einem wirklichen Erlebnis werden lassen sollen, und so kommt es noch nicht zu einer werbeträchtigen offiziellen Jungfernreise mit berühmten Ehrengästen. Diese muss noch bis zu 4. Oktober 1883 warten; an diesem Tag fährt der Zug (dargestellt in der auf diesen Absatz folgenden zeitgenössischen Illustration) mit einer erlesenen Schar von Passagieren um 19.30 Uhr aus Paris ab. In luxuriöser Umgebung führt die Reise des 60 Meter langen Zugs in 81 Stunden und 40 Minuten von Paris über Straßburg, München, Linz, Wien, Budapest, Subotica, Bukarest, Giurgiu und Warna nach Konstantinopel. Allerdings endet die durchgehend Zugstrecke in Giurgiu (Rumänien); dort müssen die Reisenden aus politischen Gründen mit der Fähre über die Donau setzen und (sehr zum Missfallen der Reisenden) mit einem normalen Zug nach Warna (Bulgarien) weiterfahren. Ab Warna ist dann bis Istanbul wieder eine Schiffsreise angesagt.
Der Journalist de Blowitz über den Orient-Express
„Die neuen Wagen, die wir einweihen, sind geräumig und bequem. Man kann sich darin nach Belieben ausstrecken, selbst wenn man viel beleibter ist als ich. Der gedämpfte Ton der Räder hinter den geschlossenen Türen und den zugezogenen Vorhängen dringt wie ein ungewisser und monotoner Rhythmus leise an das Ohr des Schlafenden und wird ihm zum Wiegenlied. Der Schlummer nimmt uns auf. Einige entfernte Geräusche übertönen den Lärm des Zuges und zeigen, dass unsere Mitreisenden der Schlaf des Gerechten umfängt. … Bevor wir ganz entschlummern, hat die diskrete Hand des Schaffners, der die Tür leise öffnet und wieder schließt, den Vorhang vor der Lampe heruntergezogen. Das Abteil, in transparente Dämmerung gehüllt, rollt durch die Nacht; nur der Pfiff der Lokomotive durchbricht die Ruhe.“ (aus Une Course à Constantinople von Henri Stefan Opper de Blowitz) |
Diese etwas umständliche Situation verbessert sich erst 1885, als dank eines Abkommens von CIWL mit der serbischen Regierung eine direktere Verbindung über Belgrad eingerichtet werden kann, die ab 1888 komplett ohne Wagenwechsel in die Türkei führt. Die Karte zur Rechten zeigt die bis 1914 geltende Streckenführung. Ab diesem Zeitpunkt kann die 3.186 km lange Strecke in 69,5 Stunden zurückgelegt werden. Die Fahrten beginnen dienstags und freitags ab Paris, donnerstags und samstags ab Konstantinopel; Abfahrtszeit ist 19.30 Uhr, damit direkt nach Abfahrt das Abendessen serviert werden kann. Die Reise ist nur mit einem Schnellzugbillett der ersten Klasse und 20% Aufschlag möglich. In den durchfahrenen Ländern gibt es jeweils lokale Speisen und Folklore-Darbietungen.
Der Luxus des Orient-Express stellt alle anderen europäischen Züge der Zeit in den Schatten: Schlaf- und Speisewagen sind mit wertvollen Gobelins, Samt, Plüsch und vierarmigen Gaskronleuchtern ausgestattet, die Tische mit Kristallgläsern, Porzellangeschirr und Silberbesteck gedeckt. Erlesene Speisen und edle Weine werden bei Kerzenlicht serviert, im Barwagen und Rauchsalon trifft man auf Kurtisanen und Spione – oder auf Kaiser und Könige. Nicht ohne Grund ist der Express nicht nur als König der Züge, sondern auch als Zug der Könige bekannt. Zu den bekanntesten Fahrgästen des Orient-Express zählen unter anderem König Ferdinand I., ab 1887 Knjaz (Fürst) und von 1908 bis 1918 König von Bulgarien, der zudem ebenso wie sein Sohn Boris III. (König von 1918 bis 1943) wiederholt selbst die Lokomotive auf dem bulgarischen Abschnitt führt. Während sein Sohn die dazu erforderlichen Berechtigungen als Lokführer besitzt, ist dies bei Ferdinand I. nicht der Fall. Sein Fahrstil führt daher wiederholt zu Beschwerden von Fahrgästen.
Hier hat es noch ein paar zeitgenössische Bilder.
“Was könnte unwirklicher, erhebender sein … romantischer ist das einzige Wort als der Augenblick,wenn man in der Nacht aus Träumen von England aufwacht und plötzlich durch das dicke Fensterglas einen goldenen Mond die Wipfel eines fremden rumänischen Waldes entlangeilen sieht? Eine Zeitlang bleiben Sie liegen, räkeln sich in der Wärme Ihres komfortablen Betts. Dann schlüpfen Sie hinaus, ziehen einen Morgenrock an, pressen Ihr Gesicht gegen die eisige Scheibe und starren hinaus. Es ist drei Uhr morgens. Sie sind irgendwo in Rumänien und fegen durch die Winternacht. Dennoch haben Sie nur einen dünnen, seidenen Morgenrock an und der Rauch Ihrer Zigarette steigt geradlinuig zur Decke empor. Gewiss sollte diese Art, zu reisen, Göttern vorbehalten sein …”
(aus No Place Like Home von Beverley Nichols) |
Abenteuerlicher Orient-Express
Der Orient-Express ist der Treffpunkt der wichtigen Persönlichkeiten der Zeit (beispielsweise im Speisewagen, rechts im Bild) und ein ausgezeichneter Abenteuerschauplatz. Eine minutiöse (und für die Spielleiterin von Abenteuer 1880 hochinteressante) Schilderung der „offiziellen“ Jungfernfahrt des Orient-Expresses gibt es in Orient Express. The Story of the World’s Most Famous Train von Michael Barsley (1966). Zeitgenössische Schilderungen der Fahrt finden sich in Henri Stefan Opper de Blowitzs Une Course à Constantinople (1884) sowie Edmond Abouts De Pointoise à Stamboul (1884). Sehr gute sekundärliterarische Übersichten sind Werner Sölchs Orient-Express. Glanzzeit und Niedergang eines Luxuszuges (1974) sowie Orient-Express: London – Paris – Budapest – Belgrad – Sofia – Istanbul. Geschichte der Orient-Express-Züge von Heike Schiller und Luca Siermann (1990). Auch der schon mehrfach in unseren Publikationen erwähnte Harry Flashman (s. Compendium, S. 45) befand sich auf der Jungfernfahrt (und das gemeinsam mit de Blowitz – s. auch Dr. Nagelius’ Compendium auf S. 97), wie man in Flashman and the Tiger (1999) nachlesen kann. Und in Bram Stokers Roman Dracula (1897) reisen Draculas Verfolger mit dem Orient-Express nach Warna – und sind damit schneller als der Vampir.
Interessanterweise benutzt in der 2004er Verflimung von In 80 Tagen um die Welt (das ist die mit Steve Coogan und Jackie Chan) auch Phileas Fogg (s. Compendium, S. 44) den Orient-Express. Interessant ist dies deshalb, da er das in Jules Vernes Buch nicht tut (auch nicht in keiner der anderen Verfilmungen). Dies liegt daran, dass Verne den Roman 1874 veröffentlichte – neun Jahre, bevor der Zug das erste Mal fuhr. Im Buch reist Fogg über Frankreich und Italien, um in Brindisi den Dampfer nach Ägypten zu nehmen.
Die Geschichte des Orient-Express’ ist reich an Zwischenfällen, aus denen sich Abenteuerideen stricken lassen. Schon den Fahrgästen des Eröffnungszugs 1883 wird von der CIWL geraten, aus Sicherheitsgründen eine Waffe mit sich zu führen, gelten Balkan und “Orient” doch als eher unsicher. Allerdings kommt es mit Ausnahme einer bereits zwischen Ulm und München heißgelaufenen Achse des Speisewagens zu keiner besonderen Vorkommnisse.
Doch bereits im Herbst 1883 zünden Banditen an der Strecke Russe – Warna den kleinen Bahnhof Vetova an, verschleppen das Kind des Stationsvorstands und lassen ihn selbst gefesselt in den Flammen zurück. Nur durch einen Zufall kann er gerettet werden. Acht Jahre später bringt der griechische Räuber Athanos den Zug 100 km westlich von Konstantinopel zum Entgleisen, entführt vier deutsche Geschäftsleute und lässt diese erst gegen die Zahlung eines Lösegeldes von 8000 Pfund Sterling in Gold frei; selbst der deutsche Kaiser Wilhelm II. schaltet sich ein. Und im Jahr 1892 sucht eine Choleraepidemie den Zug heim – was nicht zuletzt auch der Nachfrage schadet. Die diversen Balkankriege tun ein Übriges.
Michael Barsley beschreibt eine Episode, die bedrohlich wirkt, sich aber dann doch eher amüsant auflöst: Bei einem Halt an einem Bahnhof im Balkan werden überraschend die Pässe der Passagiere überprüft. Ein Reisender wird von der Militärpolizei ohne Erklärung aus dem Zug gezerrt und zum Bahnhofsvorsteher geschleppt. Dort löst sich alles auf: Der Beamte hat Geburtstag und war auf der Suche nach einem Passagier, der am gleichen Tag geboren wurde. Die Weiterfahrt des Zuges wird eine halbe Stunde aufgehalten, damit zünftig auf den Geburtstag angestoßen werden kann.
Etwas jenseits des hier abgedeckten Zeitraumes, aber natürlich von der Spielleiterin nach Belieben vorzuverlegen, ist der strenge Winter von 1907, in dem Schneeverwehungen den Zug in der europäischen Türkei festhalten. Während der Zug tiefer und tiefer im Schnee verschwindet, sind seine Fenster und Türen durch Eis blockiert. Es wird dunkel in den Wagen, das Thermometer fällt unter zehn Grad. Als die Nahrungsmittel ausgehen, muss sich das Zugpersonal auf den Weg machen, neue Lebensmittel zu besorgen, und sich dabei nicht nur vor der Witterung, sondern auch vor hungrigen Wölfen schützen. Erst nach elf Tagen erreicht endlich ein Schneepflug den eingeschneiten Zug. (Ähnliches, wenn auch nur über fünf Tage, geschieht 1929, ebenfalls in der Türkei; durch diesen Vorfall wird Agatha Christie zu ihrem Roman Mord im Orient-Express inspiriert.)
“Vorbei war nun die Zeit, da ein Bojar aus Bukarest nach einer glücklichen Nacht des Spiels seine Parasiten nicht anders loszuwerden wusste, als dass er einen Waggon mietete und sie alle nach Paris brachte, wo er sie, ihrer überdrüssig geworden, ohne einen Pfennig zurückließ; da Antoine Bibesco, der Freund von Proust, über seine großen Besitztümer mit Stolz sprach: ‘Der Orient-Express braucht dreiviertel Stunden, um MICH zu durchqueren’; da der Reisende im Bahnhof von Ersekujvár durch ein Orchester geweckt wurde, welches am Bahnsteig Csardas spielte, gemäß dem letzten Willen eines ungarischen Originals. Mit seinem Testament hatte er eine Summe hinterlassen, die ausreichte, um die Geigen singen zu lassen, wenn die großen Expresszüge vorüberkamen, die er so sehr geliebt hatte.”
(aus Le Voyage/Notes et Maximes von Paul Morand) |