Die Entdeckung Nordamerikas

Die Entdeckung Nordamerikas

(Dieser Artikel ist Teil der Hintergrundgeschichte von Hjalmar R. Holand.)

 

Die Entdeckung und versuchte Besiedlung Nordamerikas durch die Wikinger (von ihnen aufgrund der an ihrem Landeplatz aufgefundenen wilden Reben Vínland = Weinland genannt) ist das Thema der Grænlendinga Saga und der Eiríks Saga. Man geht heutzutage davon aus, daß Ende des zehnten Jahrhunderts ein Wikinger namens Bjarni Herjólfssonvon Island auf dem Weg nach Grönland abgetrieben wurde und aus Versehen Nordamerika entdeckte. Er machte dreimal Rast und nannte die drei Gebiete, an denen er vorbeikam, Vínland, Markland (= Waldland) und Helluland (Steinland). Bjarni landete allerdings nirgends an, sondern suchte und fand den Rückweg nach Grönland.

Von dort aus brach vierzehn Jahre später Leif Eiríksson auf, um Bjarnis Reise nachzuvollziehen und das Land in Besitz zu nehmen; dies trug sich entweder im Jahr 1000 oder 1001 zu. Leif folgte Bjarnis Kurs in umgekehrter Reihenfolge, von Nord nach Süd, und kam zuerst nach Helluland, dann nach Markland und schließlich nach Vínland. An allen drei Orten landete er an, doch nur in Vínland gründete er eine Siedlung. Leif und seine Männer überwinterten dort und fuhren im Frühjahr nach Grönland zurück.

Im nächsten Jahr brach Leifs Bruder Thorvald mit 30 Männern nach Vínland auf; Leif erlaubte ihm leihweise die Nutzung der von ihm angelegten Hüttensiedlung. Thorvalds Männer kamen zum ersten Mal in Kontakt mit den Eingeboren, von den Wikingernskrælingar (ein abwertender Begriff, gleichbedeutend mit “Wilde”; dieses Wort wurde von den grönländischen Siedlern auch für die Inuit benutzt) genannt. Nach einigen Kämpfen überwinterten sie und kehrten im nächsten Frühjahr zurück. Folgt man den beiden Sagas, gab es in folgenden Jahren noch weitere Reisen nach Vínland, die größte davon (mit drei Schiffen und über drei Jahre) durch den Norweger Thorfinn Karlsefni. Die letzte überlieferte Reise war die der verräterischen Freydis Eiríksdottir. Danach wird die Route nach Vínland nicht mehr erwähnt.

Es gibt andere Quellen für den Wahrheitsgehalt der Amerikafahrten der Wikinger, deren wichtigste eine Erwähnung von Vínland in Adam von Bremens Gesta Hammaburgensis ist. Verschiedene isländische Annalen (darunter das Landnámabók sowie ein isländisches Geographiewerk aus dem dreizehnten Jahrhundert mit dem Titel Symbolae ad geographiam medii ævi) erwähnen das Land ebenfalls.

Die genaue Lage der drei entdeckten Länder konnte nie wirklich nachgewiesen werden. Die wahrscheinlichste Lokalisierung ist die an der kanadischen Ostküste. Aus den Sagas geht klar hervor, dass Helluland sich “südlich von Grönland” befände, darunter sei Markland, und von dort aus wäre es “nicht mehr weit” bis Vínland. Helluland wird heutzutage gemeinhin mit den Boffin-Inseln, Markland hingegen mit Labrador identifiziert; Vínland ist bislang noch nicht völlig zufriedenstellend lokalisiert worden, doch nimmt man allgemein an, daß es sich um Neufundland gehandelt hat.

Beweise für die Wikingerexpeditionen waren lange Zeit sehr spärlich gesät. Der im Rollenspieltext erwähnte Turm von Newport existiert wirklich; es handelt sich um einen kleinen zylinderförmigen Wachturm, dessen genaues Alter und Herkunft ungeklärt sind. Die Bauweise ist nicht typisch skandinavisch, und neuerdings tendiert man dazu, seine Entstehung in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts zu verlagern, was für die Wikinger deutlich zu spät wäre. Daneben erregte lange Zeit ein Fund bei Beardmore Aufsehen, der aus einer Reihe von Gegenständen bestand (der auffälligste davon war das Bruchstück eines Eisenschwerts), die den Grabbeigaben der Wikingerzeit aus Ostnorwegen sehr ähnlich waren. Man vermutet allerdings, dass es sich bei diesem Fund um einen Schwindel aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert handelt, vermutlich von einem norwegischen Leutnant namens John Block in die USA gebracht.

Der Kensington-Stein, der den Kernpunkt der Hintergrundgeschichte von Hjalmar R. Holand bildet, ist ebenfalls eine geschichtliche Tatsache; jahrzehntelang handelte es sich bei ihm um den wichtigsten “Beweis” für den Aufenthalt der Wikinger in  Nordamerika. In der realen Welt wurde der Stein erst 1898 gefunden (von wem, ist nicht bekannt), erlangte aber sehr schnell den Status eines wichtigen und authentischen Fundstücks. Im Gegensatz zur hier beschriebenen Geschichte dauerte es allerdings bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, bis der Stein zufriedenstellend als Fälschung identifiziert worden war. Die Gründe dafür sind in der Geschichte beschrieben: Die amerikanischen Wissenschaftler waren so glücklich, endlich einen greifbaren Fund zu haben, daß sie die in der Entschrift enthaltenen Unstimmigkeiten nur zu gern übersahen. Erst als skandinavische und deutschen Runologen dem Stein größere Aufmerksamkeit widmeten, wurde die Fälschung offenbar, die wohl im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen worden war. Bei der zitierten Inschrift handelt es sich um eine Übersetzung der realen Inschrift.

Erst in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts (1961 bis 1968) fanden sich eindeutige Beweise für die Anwesenheit von Wikingern in Nordamerika, als Helge Instad bei L’Anse aux Meadows in Neufundland die Überreste von acht Blockhäusern (eins davon eine Schmiede), verschiedener kleinerer Gebäude sowie einer Vielzahl von Gebrauchsgegenständen ausgrub, die nach allgemeiner Übereinstimmung als aus der Wikingerzeit stammend eingestuft wurden.

Die in der Hintergrundgeschichte erwähnten Personen haben tatsächlich gelebt und waren mit dem Kensington-Stein verknüpft, allerdings in späteren Zeiten und in teilweise anderen Funktionen. Hjalmar R. Holand war der Wortführer all jener Wissenschaftler, die den Stein als echt ansahen; seine Hauptwerke zu diesem Thema sind The Kensington Stone(Wisconsin 1932; von daher ergibt sich auch die University of Wisconsin in Milwaukee als Arbeitsplatz meines “Helden”) und Westward from Vinland (New York 1940). Natürlich hat der reale Holand den Stein weder gefunden noch gefälscht; er war nur einfach ein wenig zu patriotisch-enthusiastisch. Erik Moltke hingegen war einer der führenden Wissenschftler, die dazu beitrugen, den Stein als Fälschung zu entlarven; das ihm zugeschriebene Zitat (hier leicht überarbeitet) entstammt seinem Artikel The Ghost of the Kensington Stone in Scandinavian Studies 25 von 1954. Im Jahr 1950 erschien mit Johannes BrønstedsArtikel im Aarbøger for nordisk oldkyndighed og historie (Jahrbuch für nordische Altertumskunde und Geschichte) eine umfassende “Abrechnung” mit den zur dieser Zeit vorliegenden “Beweisen”.

Wie man nicht zuletzt an der Geschichte von John Block sieht, ist es für einen bestimmten Gelehrtentyp des späten neunzehnten Jahrhunderts nicht unüblich, die zur Untermaurung einer neuen Theorie notwendigen Beweise selbst zu fabrizieren; es war im wissenschaftlichen Diskurs durchaus an der Tagesordnung, die eigene Meinung mit handfesten Bweisen unterschiedslos zu vermischen. Von daher fällt Hjalmar R. Holand in eine durchaus bekannte Schublade von Wissenschaftlern, die sich nahtlos in eineAbenteuer 1880-Kampagne einfügen lassen. Gleiches gilt für den mittlerweile von ihm vertretenen Typus des “reichen Mäzen”, der insbesondere (aber bei weitem nicht nur) bei Amerikanern verbreitet war. Als Beispiel sei Cyrus Vandergelt aus den Amelia-Peabody-Romanen von Elizabeth Peters (deutsch bei Econ) genannt, dessen Einflüsse auf meinen Hjalmar unübersehbar sind.

 

Literatur

Wer sich für die oben angeschnittene Thematik interessiert, wird die folgenden Bücher hilfreich finden:

James Graham-Campbell, Hrsg.: Bildatlas der Weltkulturen: Die Wikinger (Augsburg: Weltbild-Verlag, 1998)

Helge Ingstad: Die erste Entdeckung Amerikas. Auf den Spuren der Wikinger(Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein, 1983)

Inge Langenberg: Die Vinland-Fahrten: die Entdeckungen Amerikas von Erik dem Roten bis Kolumbus (1000-1492) (Köln: Böhlau, 1977)

Die Grænlendinga Saga sowie die Eiríks Saga sind 1982 in einer Übersetzung von Bernhard Gottschling in Hattingen bei Kretschmar unter dem Titel Die Vinland Sagas(Altnordische Bibliothek Band 2) erschienen.